Als die göttliche Wesenheit aber die Welt zu schaffen begehrte, erschienen vor Seiner Allgegenwart alle diese Buchstaben in ihrer umgekehrten Ordnung. Der erste der Buchstaben (Taw) erhob sich und sprach: "0 Herr des Universums! Möge es Euch gefallen, die Welt durch mich zu erschaffen, bin ich doch der letzte Buchstabe des Wortes Emet (Wahrheit), das da eingekerbt ist in Eurem Siegelring. Ihr selbst seid Emet genannt, und deshalb wäre es, o großer König, nur recht und billig, die Welt durch mich zu beginnen und zu erschaffen."Da erwiderte die Heilige Wesenheit (der Herr sei gesegnet): "Du, o Taw, du bist es in der Tat wert, ich kann die Welt jedoch nicht durch dich erschaffen. Bist du doch dazu ausersehen, nicht nur das von ergebenen und gewissenhaften Schülern und Meistem des Gesetzes ersonnene trefflichste Sinnbild vom Anfang und Ende zu sein; du bist außerdem der Gefährte von Mavet (der Tod), stehst du doch am Schluß seines Namens. Deshalb kann und darf die Erschaffung der Welt keinesfalls durch dich erfolgen." Als das Taw entschwunden war, erhob sich der Buchstabe Shin und sprach: "0 Herr des Universums, so ich Euren großen Namen Shaddai (Allmächtiger) trage, bitte ich Euch, die Welt durch mich, durch den heiligen Namen, der allein Euch zukommt, zu erschaffen." Da sprach die Heilige Wesenheit also: "Du bist, o Shin, wahrlich würdig, lauter und treu, jedoch Buchstaben, die Lüge und Falschheit zu bilden vermögen, nämlich das Qof (Q) und das Resh (R) werden sich zu dir drängen, um mit dir das Wort SheQeR (Lüge), die Falschheit zu bilden; denn hingenommen und glaubwürdig wird SheQeR erst durch den Schein der Wahrheit (Sh), die du doch verkörperst. Aus diesem Grunde mag ich die Welt nicht durch dich erschaffen." So entschwand das Shin, und das Qof und das Resh, die diese Worte vernommen hatten, wagten gar nicht erst, sich vor der göttlichen Anwesenheit zu zeigen. Der Buchstabe Tzaddi ging sodann vor Ihn und sprach: "Da ich die Zaddikim (die Gerechten) darstelle, und da Ihr mich in Eurem Namen, Zaddik (der Gerechte) vernehmet, und da ferner geschrieben steht: Der gerechte Herr liebt die Gerechtigkeit - wird es Euch belieben, die Welt durch mich zu erschaffen." Da sprach die Heilige Wesenheit also: "Tzaddi, Tzaddi, wahrlich, du bist gerecht, aber du mußt dich verborgen halten. Deine geheime Bedeutung darf weder bekannt noch offenbar werden; deshalb darfst du bei der Erschaffung der Welt nicht gebraucht werden. Dein ursprüngliches Bild war eine Rute, ein Symbol des männlichen Prinzips, überragt vom Yod, einem Buchstaben des heiligen Namens wie auch des Heiligen Bundes und Sinnbild des männlichen Prinzips. (Im übrigen sei angemerkt, daß dabei ein Bezug zu dem ersten Menschen besteht; war doch der erste Mensch ein Zwitter mit zwei Gesichtern, von denen das eine nach rechts und das andere nach links gekehrt war. Symbolisiert ist es im hebräischen Alphabet in der Figur des Tzaddi.) Die Zeit wird jedoch kommen, da du geteilt wirst, und deine Gesichter werden dann einander zugewandt sein."
Da begab Tzaddi sich hinweg, und der Buchstabe Peh erhob sich und sprach: "Ich bin der Beginn der Erlösung (Peragna) und der Errettung (Peduth), die Ihr, o Herr, der Welt zukommen lassen werdet. Darum mag es ratsam sein, die Welt durch mich zu erschaffen." - "Würdig bist du dessen und wert", entgegnete die Heilige Wesenheit, "mit dir erhebt sich jedoch auch das Üble und Böse (Peshang), auch ähnelt deine Gestalt den Tieren, die da mit zu Boden geneigten Köpfen umhergehen, ebenso wie versuchte und gottlose Menschen, die gebeugten Hauptes und mit lang ausgestreckten Armen einhergehen. Aus diesem Grunde werde ich die Welt nicht durch dich erschaffen." Obwohl der Buchstabe Ajin geltend machte, er sei das Initial des Wortes Anaja (Bescheidenheit. Mäßißigkeit, Sittsamkeit), sprach die Heilige Wesenheit zu ihm: "Ich werde die Welt nicht durch dich erschaffen"; denn Ajin ist auch der erste Buchstabe des Wortes Avon (Schlechtigkeit, Ungerechtigkeit, Frevel). Sogleich entfernte sich Ajin. Sodann kam der Buchstabe Samech und brachte vor: "Ich bin den Gefallenen nahe (Samech), wie denn geschrieben steht: Der Herr richtet auf alle jene, die da fallen." - "Kehre an deinen Platz zurück", entgegnete die Heilige Wesenheit, "und verlasse ihn ja nicht. Denn so du das tust, was wird aus den Gefallenen werden, wer wird sich um ihre Nöte sorgen, wer wird ihnen Beistand und Hilfe sein?" - Sogleich kehrte Samech an seinen Ort zurück, und es folgte ihm der Buchstabe Nun, der folgendermaßen sprach: "0 Heilige Wesenheit, Nava (große Freude) wird es bereiten, Euch in Lobpreisung (Nura tehillim) zu verehren und Eure Gerechtigkeit laut zu verkünden. Darum möge Euch es gefallen, die Welt durch mich zu erschaffen". - Aber die Antwort der Heiligen Wesenheit war: "Kehre an deinen Platz zurück, Nun, dort wo auch die Gefallenen (Nefilim) wellen, um derentwillen auch Samech an seinen Platz zurückgekehrt ist, und wende dich ihnen hilfreich entgegen." Es folgte der Buchstabe Mem und sprach: "Melech (König) werdet Ihr durch mich genannt." - "So ist es", entgegnete Er, "und dennoch will ich die Welt nicht durch dich erschaffen. Kehre sogleich mit deinen Gefährten, dem Lamed und dem Kaf, an deinen Platz zurück; denn es muß einen König geben, und es wäre nicht recht für die Welt, ohne einen König zu sein." In diesem Augenblick löste sich das Kaf aus dem Thron von Licht und Glanz und rief: "Ich bin Eure Glorie (Kawod), erschaffet die Welt durch mich!" Als das Kaf, zitternd vor Aufregung, vor der Heiligen Wesenheit stand, wurden zweihunderttausend Welten, zusammen mit dem Thron, jäh von Erregung erfaßt und drohten zu stürzen. "Kaf, Kaf!", schrie die Heilige Wesenheit, "was hast du getan? Durch dich werde ich die Welt nicht erschaffen, denn mit dir beginnt das Wort Kala (Ruin, Verlust). Kehre sofort an deinen Platz am Thron der Glorie zurück und bleibe dort!" Daraufhin zog das Kaf sich an seinen Platz zurück. Als nächster erschien der Buchstabe Jod. Er machte seinen Anspruch auf Erschaffung der Welt durch ihn mit dem Hinweis geltend, er sei immerhin der Anfangsbuchstabe des göttlichen Namens JHVH. Die Heilige Wesenheit wies ihn jedoch mit den Worten zurück: "Bescheide dich damit, das zu sein, was du bist, nämlich der Hauptbuchstabe in meinem Namen und vorrangig bei allem, was ich wirke. Du mußt bleiben, was und wo du bist." Nun erschien der Buchstabe Tet und hub vorm Ewigen an: "Erschaffet die Welt durch mich, denn allein in mir sind die Euch zukommenden Attribute der Tugend (Tuw) und Rechtschaffenheit." "Ich werde dich bei der Erschaffung der Welt nicht gebrauchen, o Tet", erwiderte die Heilige Wesenheit, "denn die Tugend, die du enthältst, ist verborgen und dem Auge nicht sichtbar, wie denn geschrieben steht: Wie groß ist deine Tugend, die du vor denen verbirgst, die dich fürchten. - Sehend wirst du der Welt, die ich zu erschaffen im Begriffe bin, unsichtbar bleiben, und ob der in dir verborgenen Tugend werden die Pforten des Tempels in der Erde versinken, wie denn geschrieben steht: Ihre Pforten sind in den Boden versunken. - Abgesehen davon bildest du zusammen mit deinem Gefährten, dem Buchstaben Cheth (CH), die Sünde. Darum werden diese Buchstaben nie in den Namen der zwölf heiligen Stämme eintreten." Als das Chet dies hörte, begab er sich gar nicht erst vor die Heilige Wesenheit, sondern kehrte sogleich an seinen Platz zurück. Jetzt tauchte der Buchstabe Zajin auf und suchte seinen Anspruch mit den Worten geltend zu machen: "Durch mich werden Eure Kinder den Sabbat halten, wie denn geschrieben steht: Gedenke (Zecor) des Sabbats, daß du ihn heiligest." "Du, o Zain", entgegnete die Heilige Wesenheit, "bist von zu kriegerischer Art; deine Gestalt erinnert an einen Speer. Dich kann ich bei der Erschaffung der Welt nicht gebrauchen." Als das Zajin diese Entscheidung vernommen hatte, entfernte es sich wie das Nun und machte dem Buchstaben Waw Platz, welcher sagte: "Ich bin ein Buchstabe in Eurem heiligen Namen." Der Ewige entgegnete also: "Sei des zufrieden, o Waw, daß du zusammen mit dem Buchstaben Heh in dem großen Namen stehst. Ich werde dich nicht als den Buchstaben erwählen, durch den ich die Welt erschaffe." Das Dalet, begleitet vom Gimel, begab sich sodann vor die Göttliche Allgegenwart, die ihnen sagte: "Lasset es damit bewenden. Denn wo immer es auf Erden Arme gibt, die Beistand und Hilfe benötigen, seid ihr, Dalet (D, Armut) und Gimel (G, Hilfe, auch: Wohltäter), solange ihr verbunden und Gefährten seid, für sie da. Deshalb haltet zusammen und trennet euch nicht, damit einer dem anderen helfe." (Im hebrälschen Alphabet folgt der Buchstabe D dem Buchstaben G.) Sodann kam das Bet und sprach: "Erschaffet die Welt durch mich, bin ich doch der erste Buchstabe im Wort Berachah (Segen), und durch mich wird alles, in der oberen wie in der unteren Welt, Euch segnen." "Wahrlich, o Bet", sprach die Heilige Wesenheit, "allein durch dich will ich die Welt erschaffen." Nachdem der Buchstabe Alef diese Rede vernommen hatte, blieb er an seinem Platz und begab sich nicht in die Göttliche Allgegenwart, die deshalb laut rief: "Alef (A), Alef! Warum trittst nicht auch du vor mich wie alle die anderen Buchstaben?" Da erwiderte das Alef: "Herr und Beherrscher des Universums, es geschieht deshalb nicht, weil ich wahrgenommen habe, daß sie alle (außer dem Bet) so an ihren Platz zurückgekehrt sind. wie sie gegangen waren, ohne Erfolg. Warum also sollte ich vor Euch treten, da Ihr dem Bet bereits das große und kostbare Geschenk, das wir alle so erfleht und begehrt haben, gegeben habt. Im übrigen kommt es dem Monarchen des Universums nicht zu, Seine Gabe einem damit Bedachten wieder zu entziehen und einem anderen zu verleihen." Diesen Worten entgegnete die Heilige Wesenheit: "Alef, Alef! Du sollst der erste unter allen Buchstaben sein, und ganz allein durch dich soll meine Einheitlichkeit, Ganzheit und Fülle zum Ausdruck gelangen. Bei allem Vorhaben, bei allen Ideen, seien sie menschlich oder göttlich, bei jeder Tat und bei jedem Beginnen, sei es im Werden begriffen oder abgeschlossen, bei allem sollst du der erste sein, der Beginn." Das ist der Grund, weshalb die Heilige Wesenheit die Großbuchstaben aus dem himmlischen Alphabet und die Kleinbuchstaben aus dem irdischen Alphabet, beide einander entsprechend, geschaffen hat. Um aufzuzeigen, daß die Buchstaben dieser Alphabete, durch die eine jede Kreatur und ein jedes Ding im Universum geformt und gebildet ist, himmlisch wie irdisch und ein und dasselbe sind, beginnt auch das Buch Genesis mit zwei Worten, deren Anfangsbuchstaben das Bet ist, nämlich mit Bereshit bara ("Anfangs schuf"), gefolgt von zwei anderen Worten, deren Anfangsbuchstabe das Alef ist, nämlich Aelohim aet ("Gott den"). Sohar 2b-3b

(Einer anderen Version dieser Legende zufolge wurde das Alef für seine Bescheidenheit damit belohnt, daß es am Anfang des Dekalogs "der zehn Gebote" steht, die im Hebräischen mit Alef beginnen.)